Nachruf Lee Kuan Yew: Der brutale Visionär (2024)

Aus der Serie: Fünf vor acht

Eine Kolumne von Matthias Naß

Fleißig und gehorsam, so sah Lee Kuan Yew den perfekten Bürger. Disziplin war dem Begründer Singapurs wichtiger als Demokratie. So machte er das kleine Land erfolgreich.

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Nachruf Lee Kuan Yew: Der brutale Visionär (1)

Am Ende war er fast milde geworden, der Kämpfe müde. Er blickte zurück auf ein ganzes Leben in der Politik, auf 60 Jahre des Aufbaus und des Aufstiegs. Das moderne Singapur, diese glitzernde, gleißende Metropole in den Tropen, vor einem halben Jahrhundert noch ein malariaverseuchter Kolonialhafen, ist sein Werk. Kein anderer Politiker wurde so mit seinem Staat gleichgesetzt wie er. Singapur, das war Lee Kuan Yew. In der Nacht zum Montag ist Asiens bedeutendster Politik der Gegenwart im Alter von 91 Jahren gestorben.

Als Premierminister von 1959 bis 1990 herrschte er roh und rücksichtslos. Er sperrte kommunistische Gewerkschafter ins Gefängnis. Er knebelte die Presse. Oppositionelle trieb er mit Verleumdungsklagen in den finanziellen Ruin. Drogendealer schickte er gnadenlos in den Tod, verteidigte die Prügelstrafe.

Der intellektuelle Überflieger mit dem glänzenden Cambridge-Abschluss war zugleich ein brutaler politischer Straßenkämpfer: "Wenn du glaubst, mir mehr Schmerzen zufügen zu können als ich dir, dann versuch's!"

Lee unterwarf den Stadtstaat einer unerbittlichen Erziehungsdiktatur. Eine hochgezüchtete Leistungsgesellschaft, frei von Korruption und Schlendrian, das war das Ideal des Sozialingenieurs, der seinen Landsleuten das Kaugummikauen verbot und ihnen am liebsten noch das rechtzeitige Heiraten und die Zahl der Kinder vorgeschrieben hätte. Gebildet, fleißig, strebsam, hart arbeitend, ohne Flausen im Kopf und stets der Obrigkeit gehorsam – so stellte er sich den perfekten Bürger vor.

Mit gnadenloser Härte hatte Lee das kleine Singapur in die Unabhängigkeit von den britischen Kolonialherren getrieben. Er hatte den Bruch mit Malaysia politisch überlebt und die Stadt gegen die fernen Wirren der chinesischen Kulturrevolution abgeschirmt. Er hielt auf Distanz zu China, ließ sich aber auch von Amerika nicht vereinnahmen.

Disziplin war ihm wichtiger als Demokratie. Wirtschaftlichen Aufstieg, davon war er überzeugt, könne es auch ohne politische Freiheiten geben. Im Grunde war Singapur das Miniaturmodell für Chinas Reformer Deng Xiaoping und seine Nachfolger: ökonomische Modernisierung ohne politische Öffnung, Marktwirtschaft plus Einparteienherrschaft.

So wie Lee vor einem übersteigerten Individualismus warnte, so versucht in Peking heute Präsident Xi Jinping sein Land gegen "westliche Werte" abzuschotten. Denen setzte Lee Kuan Yew schon in den neunziger Jahren angebliche "asiatische Werte" entgegen, denen zufolge die Gemeinschaft mehr zählt als der Einzelne, die Pflichten schwerer wiegen als die Rechte.

In Wahrheit war das Gerede von den asiatischen Werten nie mehr als eine Verbrämung von Regierungsmacht und Herrschaftsinteressen. Aus den philosophischen Traditionen Asiens heraus lassen sich Demokratie und Menschenrechte genauso ableiten wie aus dem christlich geprägten abendländischen Denken.

Ich habe Lee Kuan Yew dreimal zu längeren Gesprächen getroffen. Zum ersten Mal 1994, da war er schon nicht mehr Premier, sondern wachte als Senior Minister wie ein Oberaufseher über das Kabinett. Es war kalt damals in seinem Büro im zweiten Stock des Istana-Palastes, nicht nur wegen der auf Hochtouren laufenden Klimaanlage. Im Interview ging es neben vielem anderen auch um die Hinrichtung eines Holländers, der in Singapur mit vier Kilogramm Heroin erwischt worden war. Lee wischte die Frage nach der Todesstrafe einfach weg: "Ich kann nichts dabei finden, dass er hängen musste. Warum sollte er nicht? (...) Ich sage, wir hängen die Drogendealer auf. Und jeder weiß das."

Das zweite Mal sprach ich mit Lee 2008 über die Folgen der internationalen Finanzkrise. Inzwischen trug er den Titel eines Minister Mentor. Aber seine Rolle war die gleiche: die letzte und oberste politische Instanz Singapurs. Damals sinnierte er über die Rivalität zwischen den Vereinigten Staaten und China. Amerika habe durch die Krise an Einfluss verloren. "Keiner glaubt mehr an den Washingtoner Konsens, wonach es nur freie Märkte und Demokratie braucht, und alles ist gut. Niemand glaubt dies mehr, weder in Europa noch in Asien, noch in Lateinamerika, noch in Afrika." Zugleich warnte Lee davor, die Macht Amerikas, vor allem seine militärische Macht, zu unterschätzen: "Die Chinesen können die Amerikaner noch weitere 30, 40, 50 Jahre nicht herausfordern."

Zuletzt traf ich Lee vor drei Jahren, im Mai 2012. Ich begleitete Helmut Schmidt, der sich mit seinem alten Freund "Harry" Lee zu einem letzten, langen Gespräch verabredet hatte. Ein kleines Buch sollte daraus werden, eine weltpolitische Tour d'Horizon. Drei Nachmittage saßen wir in einem Konferenzraum des Shangri-La-Hotels zusammen.

Natürlich ging es wieder um China, um Amerika, Europa, den Islam, das Christentum. Aber die beiden alten Freunde sprachen auch über sehr Persönliches, auch über den Tod. Helmut Schmidt: "Meine Frau hat mich im Alter von 91 Jahren verlassen." Lee Kuan Yew: "Loki starb mit 91?" Schmidt: "Ja. Es war ein großer Verlust für mich. Sie müssen in einer ähnlichen Lage sein." Lee: "Ja. Der Tod hinterlässt eine große Lücke in unserem Leben. Sie kann nie wieder gefüllt werden." Am Ende dieser drei Tage haben sich die beiden alten Freunde, ganz vorsichtig, umarmt. Ihnen war klar, es würde ein Abschied für immer sein.

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